Leseprobe "Aug in Aug mit dem Erbfeind"

Aug in Aug mit dem „Erbfeind“

In einem Jahr vom Kind zum Mann in der „Franzosenzeit“

Heinrich Kauer, Argenthal 1945


Albert und Heinrich stiegen ein, schlichen sich ins Haus.

Es war die ehemalige Gaststätte Paulus in Argenthal. Sie kannten jeden Raum, den schmalen Gang von der Küche am Laden vorbei zur „langen Stube“, dort, wo jetzt, im Juli 1945, das Radio stand. Es war ein altes „Mende“. Vor Zeiten hatte Heinrichs Vater, Peter Kauer, das Radio gekauft. Und jetzt musste es irgendwo zwischen den Bergen des beschlagnahmten Hausrats in der „langen Stube“ stecken.

Alles von Wert im Dorf hatten die Franzosen konfisziert. Entsetzt hatten die Kinder und ihre Mütter zusehen müssen, wie die Franzosen ihre Betten abschlugen, die Einzelteile durch die Stiegen der Fachwerkhäuser herunter bugsierten und sie mitnahmen, um sie für sich selbst wieder aufzubauen. Küchen wurden durchstöbert, Töpfe und Geschirr, Truhen, Stühle, selbst Hocker wurden ausgeräumt und mitgenommen, dazu Mäntel und Stiefel und alles, was brauchbar war. Und eben das alte Mende von Heinrichs Vater.

Die beiden Buben kannten jeden Winkel, jeden Flur, jedes Knarren der Dielen in dem stattlichen, weiträumigen Gebäude. Es war ihnen bewusst, dass sie vorsichtig vorgehen mussten, dass sie sich auf keinen Fall erwischen lassen durften. Denn natürlich würde es böse ausgehen, wenn die Franzosen sie in die Finger kriegten: weniger für die beiden Buben, die waren ja erst 12 und 13 Jahre alt. Aber für Alberts Vater, und für Heinrichs Mutter. Sie war es, Rosa Kauer, der das Radio nach dem Tode ihres Mannes gehört hatte, bis es einkassiert worden war und auf Nimmerwiedersehen in der besetzten ehemaligen Gasstätte, die jetzt als Quartier diente, verschwand.

Für den jungen Heinrich gab es überhaupt keinen Zweifel: Die Franzosen hatten das Radio gestohlen!

Mutter Rosa musste schon die ganzen Kriegsjahre über die Familie alleine versorgen, die alte Verletzung aus dem 14/18 - Grabenkrieg hatte Vater Peter zum Invaliden gemacht und im Jahre 1943 schließlich eingeholt. Er war seinen letzten Weg gegangen, ruhte hinter den Mauern des Friedhofs – ohne einen Stein. Die Frauen waren mit Überleben beschäftigt, das Toten-Gedenken musste ohne Grabmal auskommen.

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