Josef Peil: Fünfzig Pfennige und eine Zigarre

Leseprobe Josef Peil "Fünfzig Pfennige und eine Zigarre"
(...) Johann war gut zu Fuß, er hatte sich lange Schritte angewöhnen müssen, denn das Schicksal hatte ihm einige Zentimeter Körpergröße weniger zugeteilt als seinen drei Brüdern und den anderen Burschen. Er war im Dorf der kleinste. Mitten hinein in den ersten Weltkrieg geboren, brauchte er wie die Landleute allgemein keinen übermäßigen Mangel zu leiden, sein gegen Kriegsende geborener jüngster Bruder entwickelte sich normal und überragte ihn um gut Haupteslänge. War es ein Gendefekt, war es eine unerkannte Krankheit? Niemand untersuchte das, zum Arzt zu gehen kam seinen Eltern gar nicht in den Sinn. Der wäre viel zu teuer gewesen, eine Krankenversicherung besaßen sie nicht. Dass Johann irgendwann einfach  aufhörte zu wachsen, war eben so. Man musste damit zurecht kommen. Johann lernte, große Schritte zu machen, um mit den anderen Schritt halten zu können. Sein zweitältester Bruder erlitt ein schlimmeres Schicksal. Er wurde mit 16 Jahren so schwer krank, dass ihm auch der letztlich herbei gerufene Arzt nicht mehr helfen konnte. Als Johann Jahrzehnte später starb, wusste die ganze Familie noch die Stelle, wo sein Bruder begraben lag.
Nicht lange zuvor war das ganze Gräberfeld geräumt worden, auch die Kindergräber am oberen Ende. Johann hatte das nicht gefallen, lag doch dort auch sei Maadche,  wie er das Töchterchen liebevoll nannte, das in der Notzeit nach dem Krieg an Diphterie gestorben war. Doch der Gemeinderat hatte den gesamten Friedhof neu geordnet, die alte Trennung evangelisch links vom Kiesweg im oberen Teil, katholisch rechts vom Kiesweg im unteren, dem Dorf zugewandten Teil, aufgehoben. Fortan lagen Protestanten und Katholiken auf dem Friedhof nebeneinander, so wie sie auch im Dorf lebten.
Johann machte sich in katholischer Gesellschaft wie die anderen darüber lustig, amüsierte sich über die evangelische Gepflogenheit, beim Tischgebet die Hände nicht wie die Katholiken zu falten sondern übereinander zu legen. Auf den damals noch bei Katholiken ungebräuchlichen Zusatz zum Vater-unser „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen“ wusste auch Johann einen spöttischen Knüttelvers, an dessen Ende ein auf der zweiten Silbe übertrieben gedehntes Ameen stand. Protestanten und Katholiken betonten das Amen verschieden, daran und an der Haltung der Hände beim Gebet konnte man sie voneinander unterseheiden.
Kohlköpfe hatten keine Konfession, zum Inschneire ging Johann selbstverständlich auch zu Protestanten, sogar im evangelischen Pfarrhaus wurde er gebraucht. Allerdings gab es bei den Zutaten zum sauren Kappes konfessionelle Unterschiede. Katholiken verschmähten den bei Protestanten beliebten Meerrettich.

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