Hunsrücker Lebensbilder

Vorwort zu Band 6, jetzt: "Hunsrücker Lebensbilder"

erschienen im "Eifeler Literaturverlag"

Die „Hunsrücker“ im neuen Kleid: als Taschenbuch, und statt unverwechselbarem Schriftzug ein unverwechselbares Cover.


Band 6 ist gleichzeitig Band 1 der neuen Reihe „Hunsrücker Lebensbilder“. Der Leser wird nicht enttäuscht: es erwarten ihn Geschichten zwischen Mosel, Nahe und Rhein, zum Teil sind es sehr tragische Geschichten. Aber es sind auch Erfolgsgeschichten. Das Fazit der meisten meiner „Hunsrücker“ im vorliegenden Band könnte wohl lauten: „Es war nicht so geplant – ist aber so gekommen.“ Was haben sie erreicht, woran sind sie gescheitert? Und ob Erfolg oder Scheitern: was daran ist das spezifische Merkmal eines Hunsrücker Lebenslaufs?

Beim Schicksal des postreformatorischen Pfarrers von Gödenroth Franz Merkel, dem ehemaligen Mönch, den es aus dem gebildeten, aber sehr abhängigen Status im Kloster Wolf in die protestantische Freiheit als unabhängiger Gemeindepfarrer von Gödenroth zog, wo er sein Glück als Ehemann und Vater suchte und scheiterte, ist die Frage leicht zu beantworten, denn nichts hat den Hunsrück und das Leben der Hunsrücker so nachhaltig geprägt wie die Kleinstaaterei und die Reformation, dazu die Pestwellen und die hohe Kindersterblichkeit.

Später Erfolg im vor-romantischen Ambiente am Rhein war Balthasar Sottocasa beschieden. Der Waisenjunge zog an der Seite des italienischen Kaminfegers „Meister Airola“ als dessen „Bocia“ aus dem Tessin über die Alpen und landete in St. Goar, wo er durch die Kamine geschickt wurde, um sie vom Ruß freizukratzen. Anders als seine Brüder in Simmern schaffte er den Sprung in die Einbürgerung.

Zum Erfolgsschlager wurden auch die Tabakspinnereien in Morbach. In der sonnigen Wittlicher Senke wuchs der Tabak. Was lag näher, als die aufkommende europaweite Salonkultur des Tabaks Mitte des 19. Jahrhunderts zu nutzen?

Ein unverdientes, tragisches Schicksal traf den bayrischen Schreiner Thaddäus Kaindl in Blankenrath. Zwei Tage nach der Reichstagswahl erschoss er den ortsansässigen SA-Mann. Das Gericht manipulierte die Zeugen während der Verhandlung dahingehend, dass „der Fremde“ die Hunsrücker Mentalität eben „nicht recht erkannt“ habe: Rau, aber eigentlich harmlos. Ich habe dieses Klischee des Hunsrücker Charakters in meine Reihe mit aufgenommen, weil es ganz unerhört ist. Nein – das typische Merkmal des Hunsrückers ist nicht Rowdytum. Herumballern, mit dem Karabiner fuchteln und es gar nicht schlimm meinen: Das war und ist Verunglimpfung, sei es mit dem Hintergedanken eines politisch motivierten Ziels, sei es aus dummer Arroganz. Thaddäus Kaindl ist nicht „den Hunsrückern“ zum Opfer gefallen, sondern jener nationalsozialistischer Gesinnungsgerichtsbarkeit, vor der sich noch nie jemand retten konnte.

Lore Neumann traf ich bei einer Exkursion in den Hochwald. Die hinter ihrem Haus losgeschickten V2-Raketen sorgten jede Nacht für Feuerwerk in Wirschweiler. Auch sonst war es nie langweilig! Vor dem Krieg merkte man das als Kind gar nicht, denn die Juden gehörten zum Dorfleben. Dann aber mussten sie plötzlich ihr Leben retten. Nach dem Krieg gaben sich Franzosen, Russen, Ukrainer, Amerikaner die Hand…  Mit solchen Erfahrungen ist Lore erwachsen geworden.

Ähnlich wie Marlene Klingels aus Bundenbach. Der Winter 1945 bescherte dem Frauenhaushalt eine Wohngemeinschaft, die sie ihr Leben lang nicht vergessen hat.

An den Rand des Hunsrücks führt die Geschichte vom „Stanzer“. Sie spielt im proletarischen Milieu Idar-Obersteins zur Hoch-Zeit der „Dienstmädchenschmuck“-Industrie. Galvanisierte Goldkettchen waren in den 50er Jahren beliebt bei Mann und Frau. Was dem Chef die goldene Uhrkette, das der Arbeiterin das Halskettchen mit einem Halb-Edelstein oder einem Art-Déco-Ornament. Für die Folgen dieser Industrie, die in allen Farben schillernde giftige Kloake, Nahe-Fluss genannt, war man seinerzeit wenig sensibel. Die Arbeiter, die täglich aus den Dörfern des Hunsrücks und entlang der Nahe in die Fabriken strömten, konnten ihre Familien ernähren. Die Firma Bengel sorgte für die Unterkunft ihrer Arbeiter vor Ort – was vor allem den Heimarbeiterinnen mit Kindern nützte. Der namentlich unbekannte „Stanzer“ hatte sich einen der ersten Akkordverträge ausgehandelt –zu seinem zufriedenstellenden Vorteil.

Zur gleichen Zeit, in den 50er Jahren, erwachte 80 Kilometer weiter am anderen Grenzfluss des Hunsrücks, dem Rhein, der Tourismus. Unter „Mittelrheinromantik“ subsumiert man Wein, Weib und Gesang; die Schieferfelsen, die Loreley und die Drosselgasse. Heinrich Vonderschmitt, der Kapitän der Rheinschiffahrt aus Wiesbaden, konnte damit gar nichts anfangen. Er mied das Tal und zog auf die Hunsrückhöhen, wo er die Hälfte seines Lebens verbrachte und genoss. Der Kapitän wurde zum Maler. Seine Gemälde, mehr noch seine Grafiken sind eine Hommage an das karge, raue Schiefergebirge, die Heimat seiner Wahl.

 

Die Geschichten des Hunsrücks sind immer wieder einzigartig. Und sie sind noch nicht zu Ende geschrieben.

 

Leona Riemann, Juli 2023

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