Leseprobe "Der Aufbruch"

Ausschnitt aus: "Der Aufbruch"

Anton Gräf, Müller im Flaumbachtal, 1883


(...)

Gott sei bei mir!

Er murmelte diese Worte vor sich hin, wieder und wieder. Tausendundeinmal hatte die Mutter ihr „Gottseibeiuns“ zum Himmel geschickt und dabei die ganze Familie eingeschlossen: Vater, die beiden Söhne Matthias und Anton, und sich selbst. Dabei hatte sie sich immer bekreuzigt. So hatte er es gelernt. Jetzt aber war er allein, nur den Gaul führte er am Zügel, als er am späten Nachmittag den aufgeweichten, schlammschweren Weg zur Mühle hinunter nahm.

Gott sei bei mir …

Als kleines Kind hatte er damals schon oft für sich allein um Hilfe bitten müssen: „Heiliger Antonius, hilf mir!“, hatte er geflüstert, sich in seine gefalteten kleinen Kinderhände gebissen, wenn Mutter ihn im Zorn zum Hühnerstall zerrte und einsperrte, weil er etwas verschüttet oder den Milchtopf zerschlagen hatte. Später, halbwüchsig geworden, war es oft der Vater gewesen, der ihn Sitte lehren wollte. Vor seinem Stecken hatte es kein Ausweichen gegeben, oft genug hatte auch seine flache Hand genügt, um Anton aufheulen zu lassen. In der Stube stand die bemalte kleine Figur des Heiligen Antonius, seines Namenspatrons. Antonius hielt einen langen Stengel mit einer seltsamen Blüte in der Hand, auf dem Arm trug er ein strampelndes, lächelndes Kind, das seine Ärmchen reckte. Er hatte sich sehnlichst gewünscht, selbst dieses Kind auf dem Arm des Antonius zu sein.

Eine Blume wie die in der Hand des Heiligen war rund um die Mühle nicht zu finden. Als er älter war, verstand er, dass es sich bei dieser Blume um eine besonders wertvolle Blume handelte: eine Lilie. Sie sollte die Erhabenheit des Antonius zeigen, mit der er unerschütterlich den Entsagungen des Lebens getrotzt und sich nicht mit dem Teufel eingelassen. So hatte er es im Pfarrunterricht gelernt. Was er nicht verstand, hatte die Mutter ihm erklärt: „Und du, Anton, du heißt wie er! Also mach es wie er! Das Leben ist eine immerwährende Prüfung, man darf Gott nicht verlassen, dann verlässt er auch uns nicht, auch nicht in den schlimmsten Tagen. Ob du arm sein wirst oder reich: Lass dich nie auf den Versucher ein. Denk immer an deine Familie, sorge für Vater und Mutter. Du wirst eine gute Frau nehmen, so wie dein Vater eine gute Frau genommen hat. Du wirst Kinder haben, die dich eines Tages ernähren. Das ist der Lauf des Lebens. Und fürchte kein Unglück! Erst am Ende des Weges steht Seligkeit. Merke es dir: Erst am Ende steht Seligkeit.“ Danach hatte sie ihn an die Arbeit geschickt und wie üblich allein ihren Weg am Mühlrad vorbei zum Kappesgarten gemacht, wie immer kurz innegehalten und sich hinter der Bruchsteinmauer bekreuzigt. Anton hatte sich, als er größer war, oft gefragt, was diese Mauer da zu suchen hatte. Sie war nicht lang und sehr niedrig, diente nicht der Umfriedung, und wenn er sich darauf setzen wollte, vertrieb die Mutter ihn voller Zorn.

Jeden Abend hatte Mutter in ihren letzten Jahren in der Stube am Fenster gesessen und in den Bach gestarrt, der sich seinen Weg durch das finstere Tal hindurch bahnte, unermüdlich. Sein Weg änderte sich nie. Aber er schien sein Gebaren dem Lauf der Zeit anzupassen: Manchmal sprudelte er leicht daher und behielt immer genug Wasser für sich, selbst dann, wenn man sein Wasser durch den Mühlgraben zwang, damit es von oben herunter in die Schaufeln stürzte, das Rad sich drehte und die schweren Mühlsteine sich in Bewegung setzten. Manchmal murmelte er vor sich hin, fast so, als so, als schliefe er. Dann wieder übertrat er seine Ufer, toste um die Mühle und was sich nicht von ihm fernhielt, riss er mit sich.

Share by: