Leseprobe "Helden"

Helden

Rino Barbetti, „Badoglio“, und Major Dr. Otto Löblein, Arzt

Birkenfeld / Nohfelden, September 1944

Als Rino Barbetti im September des Jahres 1944 mit den anderen Männern seines Trupps die zerbombten Schienen für den Birkenfelder Versorgungsnachschub reparierte, klemmte er sich seine Hand zwischen Zeigefinger und Daumen so heftig zwischen die Eisen, dass ein klaffender Riss ihn an der Weiterarbeit hinderte. Die Wunde infizierte sich, und so kam es, dass der Führer des Kriegsgefangenen - Arbeitskommandos ihn nicht länger einsetzen konnte, obwohl das gerade jetzt, kurz vor dem Endsieg, dringend erforderlich gewesen wäre. Denn die Alliierten, besonders die Amerikaner, richteten mit ihren Jabos und mit pausenlosem Beschuss aus der Luft täglich große Schäden im Straßen- und Schienennetz an.

Die Versorgungsengpässe machten nicht nur den Lagerhäftlingen zu schaffen. Auch die Wachmannschaften und die meistens noch jungen Truppführer der Arbeitskommandos litten unter Hunger. Dabei waren vor allem die Truppführer überzeugt davon, dass es von ihnen persönlich abhing, dass die Versorgungslogistik wieder funktionierte, damit man den Endsieg in Kürze feiern konnte. Jeder von ihnen war bestrebt, „den Kriegsgefangenen ein Vorbild in militärischer Haltung und Führung“ zu sein. So verlangte es die allgemeine Dienstanweisung. „Dienstvernachlässigung gegenüber den Gefangenen“, wie sie vor allem bei den alten Männern der Wachmannschaften, die den ersten Krieg bereits erlebt hatten, beobachtet werden konnte, mussten unverzüglich gemeldet werden. „Kein falsches Mitleid! Grundsatz: Feind bleibt Feind!“ So stand es schwarz auf weiß. Das wusste jedes Kind! Das wussten nicht nur die Truppführer selbst, das wussten auch die Landesschützen, die Köche im Lager und die Ärzte in der Notaufnahme, die Frauen in den Schreibstuben der Verwaltung und die Pfarrer wussten das und hielten sich daran, denn wer einen Gottesdienst für Gefangene und Zivilisten abhielt oder auch nur zuließ, galt als Landesverräter.

Rino Barbetti lernte schnell: Hilfe konnte er in diesem von Misstrauen und Denunziation verpesteten Lagerleben von niemandem erwarten! Stimmte es denn nicht? War er denn nicht der Feind der Deutschen? Alle Italiener waren die Feinde der Deutschen, nach dem Fall Mussolinis, als dessen Soldat der 19jährige Rino damals Seite an Seite mit den deutschen Soldaten für eine Sache in den Krieg gezogen war, von der er heute weniger als je zuvor verstand, was daran gut gewesen sein sollte. Heute, mit 22 Jahren, wusste er, dass er mit jedem Schritt, den er gelaufen war, mit jedem Schuss, den er fürs Vaterland abgegeben hatte, nicht einer „Guten Sache“ gedient hatte, sondern allein der Hölle auf Erden, in der nichts mehr stimmte, woran er je geglaubt hatte.

Ein Jahr war es her, dass er bei seiner Gefangennahme in Griechenland lachend herumgestoßen worden war und dabei in einem unmissverständlichen Kauderwelsch zwischen Deutsch, Italienisch und Gesten zum ersten Mal eine jener Fragen gestellt bekommen hatte, auf die es keine Antwort gibt: „Willst du in den Waggon steigen und mitkommen oder lieber gleich erschossen werden und mit deinen compagni auf ewig in Frieden ruhen Badoglio?“

„Badoglios“ – so nannten die Deutschen die Italiener, seit der neue Ministerpräsident, Mussolinis ehemaliger Freund und General Pietro Badoglio, nach der Entmachtung des „Duce“ zu den Alliierten übergelaufen war. Oft noch sollte Rino dieses Wort hören, als er längst in Deutschland war. Es wurde zur Begleitmelodie auf dem täglichen Fußmarsch vom Lager zum Arbeitseinsatz. „Badoglios“ riefen wütende Frauen hinter den italienischen Arbeitstrupps her, wenn die Männer sich in ihrer abgewetzten Kleidung ausgelaugt und sterbensmatt die Straßen entlang schleppten: „Badoglios!“

Mit 40 Mann und 10 Pferden pro Waggon traten 15.000 italienische Soldaten den langen Weg nach Deutschland an, und als er nach zwei Monaten endlich in Trier angelangt war, da hatte er geglaubt, alles überstanden zu haben, was ein Mensch erleiden kann: Enge und Düsternis der Waggons, Verdreckung und Verelendung, Hunger und Wassermangel, Verlust der Kontrolle über das Geschehen.


Share by: